Nützliche Grenzen
Auf den vorangegangen Seiten haben wir uns sehr intensiv mit den verschiedensten Grenzen und ihrer Auflösung beschäftigt. Sicherlich wirst du aber das Gefühl nicht los, dass das alles so einfach auch nicht sein kann. Wir können doch nicht einfach mal so alle unsere Grenzen auflösen? Was würde dann aus uns werden?
Du hast völlig recht. Viele Grenzen sind für uns sehr wichtig. Durch sie ist unser Leben und Erleben überhaupt erst möglich. Um Grenzen glücksbringend überwinden zu können, müssen auch erst einmal welche da sein. Deshalb möchte ich an dieser Stelle für die Erhaltung von Grenzen werben, und zwar für die, die eine nützliche Funktion aufweisen.
Ich hatte einmal ein tiefes Erlebnis, das mir den großen Wert bestimmter Grenzen verdeutlichte. Während eines Ferienaufenthaltes in den österreichischen Bergen besuchten wir einen Tierpark. Neben den vielen einheimischen Tieren gab es dort auch einen Geländeabschnitt mit großen Raubkatzen. Sehr ungewöhnlich war, dass man sehr nahe an die Tiere heran kam. Fasziniert von den großen Tigerkatzen und deren seltene Nähe blieb ich einen Moment bewundernd stehen. Doch dann geschah das Unfassbare! Eines dieser großen Raubtiere drehte blitzartig seinen riesigen Kopf in meine Richtung, riss das gigantische Maul auf und stürzte auf mich zu. Ich stand da wie gelähmt, wie eingefroren durch diesen hypnotisierenden Blick des Tieres. Ich wusste in diesem Moment, dass es völlig sinnlos war, auch nur ansatzweise eine Flucht zu planen. Nein, noch schlimmer: Das Tier und ich wussten, dass es für mich nun zu spät ist, dass alles schon vollzogen ist und dass nichts in diesem Universum das verhindern kann. Bis auf dieses Gitter. Bollernd schlugen die mächtigen Pranken mit den fingerdicken Dolchen in Höhe meines Gesichtes vor die Stahlstäbe, die nur einen halben Meter entfernt waren.
Zwei wichtige Erfahrungen brachte dieses Erlebnis: einmal die Erkenntnis, dass Raubkatzen über unglaublich hypnotisierende Fähigkeiten verfügen. Ihr Blick schafft Tatsachen, die nicht mehr zu leugnen sind. Das andere war die Erfahrung, dass Grenzen etwas sehr Nützliches und Schönes sind, wenn sie uns vor neuen Einschränkungen und Unfreiheiten bewahren. Wir schützen unser Land durch Grenzen und Zölle, um zu verhindern, dass neue ungewollte Begrenzungen für uns Bürger entstehen. Grenzen schützen uns vor Begrenzung. Wir handeln mit ihnen und nehmen sie in Kauf. Zum Beispiel dann, wenn wir zur Arbeit gehen und uns dort für eine gewisse Zeit in „Unfreiheit“ begeben, um mit dem Geld, an anderer Stelle Freiheit zu erwerben (Smartphone, Auto, Urlaub …). Sicher scheint aber, dass keine Grenze primär einen beglückenden Zweck erfüllt. Ich war damals zutiefst dankbar über die Gitterstäbe des Käfigs. Nicht, weil ich Grenzen liebe, sondern weil mir gerade diese Grenze eine besondere Fülle an Freiheit und Grenzenlosigkeit erhalten hat.